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Brainfuck & Wo ist eigentlich Pink Cloud?

Abhängigkeit in meinem Hirn.

Brain
Different Faces

Krankheit. Entscheidung. Selbstmedikation. usw.

 

Das Model der Abhängigkeit als "Krankheit" besagt, dass unser Gehirn krank ist. Es sollen demnach Änderungen in bestimmten Hirnregionen, vor allem dem Belohnungszentrum vorliegen. Dieses Model sagt zudem aus, dass sich unser Gehirn in seiner Struktur verändert, wenn wir wiederholt abhängig machende Substanzen (Alkohol, andere Drogen) zu uns nehmen. Diese Änderungen sind  nur sehr schwer bis gar nicht - also eher gar nicht - rückgängig zu machen. Dementsprechend ist Abhängigkeit in diesem Model als eine chronische Krankheit definiert.

Das Model der "Entscheidung" entstammt eher einer kognitiven Perspektive und besagt eben das, dass Abhängigkeit eine Entscheidung ist. Die Entscheidung dafür, eine abhängig machende Substanz zu konsumieren und das "High" sein in Kauf zu nehmen. Das kurzfristige High ist wichtiger, als die langfristigen Konsequenzen.

Das Model der Abhängigkeit als Selbstmedikation besagt, dass ich eine Strategie wähle, um Stress oder unangenehme Gefühle zu minimieren oder auszuhalten bzw. zu unterdrücken. Sprich: Alkohol trinken und Drogen konsumieren fühlt sich so lange gut an, bis es sich nicht mehr gut anfühlt.

 

Eine neue Sicht auf Abhängigkeit geht davon aus,  dass diese eher ein Lern- und Entwicklungsprozess ist. Dass unser Gehirn in diesem Falle eigentlich "nur" seine Aufgabe tut und sich aus diesem Grund die Strukturen im Gehirn verändern. Dieses Model geht davon aus, dass Abhängigkeit keine chronische Erkrankung in dem Sinne ist, sondern dass sich unsere Hirnstrukturen durch Wiederholung, Entwicklung und Lernprozesse aufgrund seiner Neuroplastitzität verändert. Dementsprechend ist Abhängigkeit eine Gewohnheit und eine Gewohnheit lässt sich gewöhnlich erst einmal schwer wieder ändern, da wir Gewohnheitstiere sind, aber sie lässt sich ändern. In "The Biology of Desire" argumentiert Marc Lewis, dass Abhängigkeit keine Krankheit ist, sondern das unser Gehirn lediglich das tut, was es tun muss, wenn es eine "motivierende Erfahrung" macht und diese immer wieder wiederholt ('pathological overlearning').

Bevor ich abhängig geworden bin, kannte ich all diese Theorien und Modelle nicht. Wie auch? Ich wollte ja nie abhängig werden, dementsprechend habe ich mich auch nicht weiter mit dieser Thematik auseinandergesetzt. Und da ich nicht abhängig werden wollte, kann mir auch nicht vorgeworfen werden, dass ich gewählt habe, abhängig zu werden. Ich kann mir auch schwer vorstellen, dass irgendein Mensch auf dieser Welt die Wahl trifft, abhängig zu werden. Und irgendwie gehörte (zumindest Alkohol) in der Gesellschaft, in der ich aufgewachsen bin, immer dazu. Sprich, ich habe gelernt, dass Alkohol Teil unserer Gesellschaft ist und wenn ich Teil dieser Gesellschaft sein möchte, dann sollte ich Alkohol trinken und im besten Falle auch vertragen, denn wer keinen Alkohol trinkt, der fällt auf. Dementsprechend habe ich Alkohol nie in Frage gestellt. Die Entscheidung ist dann quasi schon gefallen, bevor ich Erwachsen geworden bin und meine Entscheidung habe ich erst dann angefangen in Frage zu stellen, als mir Alkohol anfing ab und an einmal die Beine zu stellen. 

Ich hatte auch eher wenig traumatische Erlebnisse. Also in dem Sinne, dass ich irgendeine schreckliche Erfahrung gemacht habe, die ich so tief in mir vergraben habe, weil sie so schmerzhaft ist, dass ich sie durch Alkohol und Drogen ertränken wollte. Ich habe eher über die Jahre ganz viele kleine Verletzungen gesammelt. Menschliche Verletzungen, mit denen jede*r mehr oder weniger in seinem Leben konfrontiert wird. Sowas wie Mobbing, oder von Mitmenschen nicht akzeptiert werden, oder Aussagen der eigenen Eltern, die sie sicherlich nicht so gemeint haben, die aber bei meinem pubertierendem Ich ganz falsch angekommen sind und das tat weh. Und außerdem tat es weh, dass ich gesehen habe, was Alkohol anrichten kann und das habe ich nicht verstanden. In meinem Kopf war Alkoholabhängigkeit mit einem Stigma behaftet und so durfte niemand sein, schon gar nicht in meinem näheren Umfeld. Das war quasi ein k.o. Kriterium. Und da ich es für mich behalten musste, hat sich in meinem Bauch eine riesengroße Wutblase geformt. Ich bin jeden Tag zur Schule gegangen mit dem Gefühl, dass ich eigentlich Platzen möchte. Aber ich habe funktioniert. Und ich habe mir nie die Frage gestellt, ob ich denn selbst abhängig werden könnte. Es stand fest, dass ich es nicht werde. Dennoch wurde ich es.

Abhängigkeit und Gehirn
Gehirn

Ich habe das Ganze also nicht gewollt, bin aber dennoch geradezu darauf hingesteuert und wenn ich mir meinen Trinkverlauf so betrachte, dann ist mir rückblickend klar, warum ich abhängig geworden bin. 1. Habe ich gelernt, dass Alkohol und Drogen in unserer Gesellschaft dazugehören. 2. Habe ich gelernt, dass Alkohol dazu verwendet wird, um Probleme zu "lösen" (Randnotiz: Alkohol löst keine Probleme). 3. Wollte ich nicht abhängig werden. 4. Habe ich alles dafür getan, um abhängig zu werden. 5. Ich habe abhängig machende Substanzen konsumiert. 5. Ich habe abhängig machende Substanzen "gut" vertragen.
Dementsprechend habe ich mir eigentlich selbst beigebracht, dass mein Belohnungszentrum über die Jahre bei immer mehr Gelegenheit anspringt, denn ich habe über die Jahre zu immer mehr Anlässen getrunken, bis ich nur noch getrunken habe.

 

An dem Tag, an dem ich in der Klinik angekommen bin musste ich 27 Wochen lang jeden Tag (mehrmals) sagen, dass mein Name Vlada ist und das ich Mehrfachabhängig bin. Ich habe mich immer wie eine Vlada gefühlt, aber ich habe nie gefühlt, dass ich Mehrfachabhängig bin. Ich habe mich gefragt, warum ich diesen Satz immer wieder sagen muss, obwohl ich doch eigentlich in dem Moment nichts konsumiert habe. Und diese Aussage hat mich regelmäßig erdrückt. Manchmal habe ich mich so gefühlt, als würde ich den Satz sagen und ganz heimlich hinter meinem Rücken Zeigefinger und Mittelfinger kreuzen. Ich wollte das nicht sein, weil ich so viel mehr sein wollte.

Ich habe gelernt, dass Abhängigkeit eine chronische Krankheit ist, aber ich habe mich nicht krank gefühlt. Und damit ihr mich nicht falsch versteht: ich nehme Abhängigkeit fucking ernst, denn ich weiß in welche Hölle mich das erste Glas Wein katapultieren würde, denn es ginge um Liter, nicht um einen Schluck.

 

Ich bin kein Neurologe, aber soweit ich das verstanden habe sieht es in unserem Hirn folgendermaßen aus: In einem gesunden Gehirn werden Überlebensstrategien wie Essen, Jagen, Sex haben, welche mit dem Mittelhirn in Verbindung zu bringen sind, mit einer Ausschüttung von Dopamin "belohnt". Das wiederum gibt uns ein natürliches Gefühl von "High" sein oder "YAY - Gefühl". Auf die Ausschüttung von Dopamin folgt die Ausschüttung von Serotonin, welches uns das Gefühl von Befriedigung vermittelt, welches wiederum die Dompinausschüttung reguliert. In einem "abhängigen" Gehirn sieht dieser Prozess folgendermaßen aus: unsere natürlichen Überlebensstrategien wie jagen, essen, Sex (also die Basics) geben uns kein gutes Gefühl mehr, denn der Konsum von abhängig machenden Substanzen hat unser Hirn ins Ungleichgewicht gebracht und verringert somit die natürliche Ausschüttung von Serotonin und Dopamin. Sprich, Abhänge empfinden keine Glücksgefühle mehr ohne ihre Droge. Ohne der Droge im Körper und ohne der Versorgung mit Dopamin und Serotonin, schüttet das Gehirn Noradrenalin aus und das wiederum bewirkt, dass der Abhängige Entzugserscheinungen wie Zittern, Angst, vermehrtes Schwitzen, Unruhe verspürt.

Das Gehirn reduziert die Dopaminrezeptoren, sodass der Abhängige eine größere Menge an Drogen konsumieren muss, um "high" zu werden. Diesen Vorgang nennt man dann "Toleranzentwicklung". Wenn der Abhängige nun auf seine Droge verzichtet und die natürliche Dopaminausschüttung verringert ist, setzt ein starkes "Craving" (Suchtdruck) ein und da Abhängigkeit mit unserem Mittelhirn in Verbindung gebracht wird und dieses unser "Überleben" reguliert, geht es beim "Craving" nach der Droge im Endeffekt gefühlt ums nackte Überleben. Sprich, wir haben das Gefühl, dass wir ohne Drogen drauf gehen und dieses Gefühl ist nicht zu vergleichen mit mal Bock auf ein schönes Stück Schokoladenkuchen haben sonder eher mit: "Wenn du mir dieses verdammte scheiß Stück Schokoladenkuchen jetzt nicht sofort gibst, dann passiert hier gleich ein Unglück." So ungefähr fühlt sich das an. Abfuck.

Ich will meine rosa Wolke! Jetzt!

Oftmals ist die Rede von dieser "Pink Cloud". Dieser pinken Wolke, auf der man schwebt und alles fühlt sich so leicht und locker an. Um es ganz einfach auszudrücken. Wenn dein Gehirn durch Abhängigkeit nicht mehr genügend Dopamin ausschüttet und du noch dazu auf "deine" Droge verzichtest, dann fühlt sich alles erst einmal scheiße an. Keine Drogen, kein Dopamin. Matschbirne und Affe im Hirn.

 

Nach einer Zeit reguliert sich das Gehirn. Aber was hat es mit der Pink Cloud auf sich?
In meiner Community war in letzter Zeit vermehrt die Rede darüber, dass einige ihre pinken Wolken vermissen. Das Ding ist, die pinken Wolken sind nicht nur gut. "Pink Cloud" bezeichnet den Zustand, den einige Abhängige nach einer kurzen Zeit (Tage, Wochen) der Abstinenz verspüren. Nach jahrelangem Alkohol- und Drogenkonsum fühlt man sich möglicherweise zum ersten Mal seit langer Zeit wieder klar und frisch und am Leben und alles fühlt sich plötzlich leicht an. Aber die pinken Wolken können auch trügerisch sein, den sie verzerren das Bild des nüchternen Lebens. Nicht selten überschätzen sich Menschen, die auf einer Wolke schweben. Die Pink Cloud ist weder gut noch schlecht. Die Pink Cloud kann eintreten, muss sie aber nicht. Und es bringt nichts darauf zu warten, denn dann wartest Du letztendlich wieder auf ein "High".

 

Das Geheimnis bei der ganzen Sache ist, dass du dir dein Leben schön machst, mit allem, was zu so einem Leben dazugehört. Das Leben besteht aus Höhen und Tiefen und so wird es immer sein. Manche Tage sind ultra scheiße und andere Tage sind mega geil. Der Unterschied ist nüchtern nur, dass Alkohol und Drogen keine Rolle mehr spielen. Der Unterschied ist zu lernen, Gefühle auch nüchtern aushalten zu können und zu verstehen, das wir alle unser eigenes Leben leben und dies auch gestalten können.

rosa Wolken
Pink Cloud

Ich schwebe nicht auf rosa Wolken, weil das einfach viel zu gefährlich ist. Ich habe lieber Boden unter meinen Füßen, oder das, was ich als Boden bezeichnen kann. Ich versuche so oft wie möglich im Hier & Jetzt zu leben. Ich versuche mein Leben zu genießen und ich lebe es. Ich muss nicht mehr die Entscheidung treffen, ob ich trinke/baller, oder nicht. Diese Entscheidung spielt keine Rolle mehr. Ich weiß nicht, was mir noch passieren wird, aber momentan spielt diese Entscheidung keine Rolle mehr.

 

Und oftmals werde ich zum Beispiel bei Interviews gefragt, womit ich denn nun anstoße und die Antwort ist: Ich stoße nicht mehr an, oder es ist Wasser. Ich werde gefragt, wie ich heute feier und die Antwort ist: Ich gehe nicht mehr hardcore feiern wie früher, das nimmt einfach keinen Platz mehr ein und ich vermisse dies die meiste Zeit nicht. Ich werde wieder tanzen gehen, aber auch nur, wenn ich mich danach fühle. Ich werde oft gefragt, ob ich das "High" sein oder das Betrunkenen vermisse und die Antwort ist: keine einzige fucking Sekunde lang. Das Gefühl der letzten Dosis, das Gefühl des letzen Katers, diese innerliche Unruhe, dieser dumpfe Schmerz, diese Zerrung in meinem Hirn, diese dunkle schwarze Wolke in meiner Brust vermisse ich nicht eine Sekunde lang. 

Und für einige könnte das wie eine Lüge klingen, oder so, als wäre ich irgendwie Brainwashed, weil zumindest Alkohol in unserer Gesellschaft so einen großen Stellenwert hat. Und ich könnte kotzen wenn jemand Alkohol als soziales Schmiermittel bezeichnet. Was sagt das denn bitteschön über unsere Gesellschaft aus? Das wir uns nur benebelt ertragen? Na prost Mahlzeit! Ich finde das hört sich traurig an, denn ich mache die Erfahrung, dass ich nüchtern so viel mehr ich bin und das ich dieses Ich echt sehr gut leiden kann und das ich andere Menschen nüchtern noch so viel mehr leiden kann und bei Gesprächen zuhören kann und mich nicht immer wieder wiederhole. Ich wache auch morgens nicht auf und weiß nicht, was ich letzte Nacht für sinnlose Nachrichten verschickt habe. Mein Leben ist einfach nicht mehr sinnlos, weil ich meinem Leben einen Sinn gebe.

 

Und dabei möchte ich betonen, dass mich der tägliche Abfuck auch verfolgt wie: 3 Monate auf meine Steuernummer warten, weil beim Finanzamt etwas schief gegangen ist; 4 Mal in der Nacht vor die Tür gehen müssen, weil meine Hündin Durchfall hat. Versicherungen, die einen Schaden nicht regulieren wollen, weil sie sich eine andere Geschichte dazu ausdenken; noch mehr Versicherungen und Steuerfragen; eine Trennung; ein Brief vom Anwalt; richtig, richtig viel Wut im Bauch; nicht wissen, wie ich mit absurden Situationen umgehen soll; zu wissen, dass ich eigentlich gar nicht extro- sondern introvertiert bin; unfassbar aufgeregt sein wenn ich neue Menschen treffe; Projekte ins Leben rufen, bei denen mir der Arsch manchmal auf Grundeis geht und ich mich frage, was ich mir dabei eigentlich gedacht habe; ab und an mal zu denken was passieren würde, wenn ich all das hier einfach löschen würde; zu schauen, dass ich mich nicht selbst übergehe; zu schauen, dass ich nicht überfordert bin; mit all den Selbstzweifeln umgehen; mit all den Informationen umgehen; damit umgehen, dass ich manchmal denke, dass ich überhaupt gar nichts weiß und ich mich wundre, warum mich Menschen als Expertin bezeichnen; mein ratterndes Hirn zur Ruhe bringen wollen; genervt sein wenn mir auf einem einsame Feldweg ein andere Menschen entgegenkommt, weil ich eigentlich meine Ruhe haben möchte; nicht zu wissen, wie das alles werden wird; nicht zu wissen, wie richtiges Dating eigentlich wirklich geht; wütend auf meinen Exfreund sein; wütend auf den anderen Exfreund zu sein; wütend auf mich selbst sein; wütend auf die Agentur für Arbeit sein, weil ich drei Monate auf meine Steuernummer warten musste und dementsprechend keine Einnahmen hatte. Das alles ist der tägliche Abfuck des Lebens und der wird auch bleiben, sobald wir aufhören zu konsumieren. Der Unterschied ist heute nur, dass ich weiß, dass ich all das ohne Substanzen viel besser ertrage und es auf den Blickwinkel ankommt, weil ich unabhängig bin.

resources: "Biology of Desire" von Marc Lewis, "Quit like a Woman" Holly Whitaker, "This Naked Mind" Annie Grace, "Integral Recovery" John Dupuy

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photo credits: Random Institute, Tayla Jeffs, Eberhardt Grossgarsteiger // unsplash


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