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Interview mit Dominique von Traveling the Borderline

Borderline - Wie ein aufgeblasener Luftballon

Wie fühlt sich Borderline eigentlich an?
Borderline

 

Gesucht habe ich eine Mitstreiterin, eine „Erfahrungsgenossin“. Gefunden habe ich Traveling the Borderline (www.travelingtheborderline.com) und einen Text: „Der Alkohol und ich“, indem Dominique ganz offen über ihre Abhängigkeit schreibt – ein Outing quasi. Sie beschreibt, dass es mit der Depression und der Borderline anders war. Das Outing war in gewisser Weise leichter – anders mit der Sucht. Ganz drastisch formuliert sie: „Burnout zu haben ist 'in' – aber Sucht ist definitiv 'out'.“

 

Wann hast du zum ersten Mal mitbekommen, dass du eventuell ein psychisches Problem haben könntest? Und wie bist du damals damit umgegangen?

 

Das hat tatsächlich relativ lange gedauert. Angefangen hat die ganze Problematik, als ich ungefähr 15 Jahre alt war. Ich habe angefangen mich selbst zu verletzen und vermehrt Alkohol zu trinken. Dass diese Dinge eigentlich aufgrund meine Borderline in mein Leben getreten sind - um besser mit ihr klar zu kommen - sehe ich jetzt erst im Nachhinein. Damals habe ich einfach nach Mitteln gesucht, um klar zu kommen und zu funktionieren. Ich bin nach und nach immer weiter in diese Verhaltensweise rein gerutscht. Natürlich dachte ich mir ab und an, dass das nicht ganz normal sein kann sich zwei Mal am Tag zu verletzen und eine Flasche Wodka zu trinken, aber ich hatte da nie die Vermutung, dass ich irgendwie krank sei. Das ist das gemeine an psychischen Krankheiten – besonders an der Sucht – das sie ein Meister darin sind, sich in den eigenen Gedanken zu verstecken. Ich habe mein Verhalten und meine Gefühle auf meine eigene Unfähigkeit geschoben. Das ich ein ernstzunehmendes Problem habe, verstand ich erst kurz bevor ich die Therapie begonnen habe. Es hat Jahre gedauert, bis ich es für mich in die Kategorie 'krank' und nicht 'unfähig' stecken konnte.

Hattest du Menschen in deinem Umfeld, die ähnliche Probleme oder Verhaltensweisen an sich gezeigt haben?

 

Das Verhalten der klassischen Selbstverletzung habe ich tatsächlich bei einer Bekannten auf dem Schulhof gesehen. Wegen ihr war damals sogar der Notarzt an der Schule. Ich habe ihre Narben am Arm gesehen und dachte mir, dass ich das auch einmal 'ausprobieren' könnte. Ich bin auf die Suche nach einem Ventil gegangen. Schon damals habe ich meine Finger mehr zerkaut als andere – dadurch konnte ich Druck abbauen.

 

Wann kam der Alkohol ins Spiel? Haben sich Borderline und der Alkohol bedingt?

 

Heute sage ich ganz klar: die Grunderkrankung war Borderline und da ich damit nicht klar gekommen bin, habe ich mir den Alkohol gesucht. Ich habe gemerkt, dass mir das Trinken dabei hilft, entspannter und lockerer zu werden. Ich hatte endlich eine Pause und wurde durch den Alkohol für ein paar Momente nicht mehr von meinem Kopf terrorisiert.

 

Ich war mit 16 in einer Band – da gehörte dann Bier und Co. dazu. Das ich mir stärkeren Alkohol gesucht, beziehungsweise heimlich getrunken habe, war ein schleichender Prozess. In meinem Umfeld war Alkohol hingegen nie ein großes Thema.

 

Hast du den Alkohol auch tagsüber konsumiert?

 

Ich habe recht schnell morgens schon Alkohol getrunken. Er wurde zu meinem Rettungsanker. Ich habe Wodka in Kombination mit RedBull für mich entdeckt. Gerade im letzten Schuljahr hatte ich fast immer Alkohol bei mir. Ich war der festen Überzeugung, dass ich den Tag ohne Alkohol nicht überstehe.

 

Von meinem 16. bis zu meinem 23. Lebensjahr gab es keinen Tag, an dem ich nicht getrunken habe - danach war es phasenweise weniger und zu viel. Ich trank heimlich in den Schulpausen auf der Schultoilette. Als ich einen Job hatte, musste ich mir dann ruhige Ecken suchen.

 

Und dich hat nie jemand darauf angesprochen? Wie kannst du dir das erklären?

 

Als Abhängiger wird man mit zunehmender Sucht kreativer. Ich hatte zahlreiche Ausreden und Strategien. Ich kann mich daran erinnern, dass ein Mitschüler an meinem Eistee gerochen hat und meinte, dass der nach Alkohol riecht. Daraufhin habe ich gespielt empört und belustigt reagiert und es abgestritten – innerlich habe ich natürlich absolute Panik bekommen.

 

Sicherlich gab es einige Menschen die mitbekamen, dass ich gerne und häufig trinke und viel vertrage. Öffentlich getrunken habe ich aber nur zu 'akzeptierten' Tageszeiten. Das morgendliche Trinken ist weitestgehend versteckt geblieben.

 

Man wird so gut in seinen Strategien. Auf der anderen Seite denke ich aber auch, dass die Leute es auch gar nicht wissen möchten.

 

 

Hattest du Entzugserscheinungen, wenn du nicht getrunken hast?

 

Nein, das hatte ich tatsächlich nie. Das war auch ein bisschen mein Fluch. Nach 7 Jahren täglichen Konsum habe ich ausprobiert drei Tage lang nichts zu trinken und habe es problemlos geschafft. Weder Zittern, noch Schweißausbrüche – das bestätigte mich natürlich darin, kein Suchtproblem zu habe.

 

Du schreibst auf deinem Blog und in deinem Buch, dass du an Borderline, Depression und Sucht erkrankt bist. Bedingen sich deiner Meinung nach diese Krankheiten?

 

Ich sehe das absolut so. Ich habe in dem Chaos, welches in mir tobte, einfach ein Ventil gesucht. Die Depression kam recht schnell zur Sucht hinzu. Ich bin der festen Überzeugung, dass sich all diese Krankheiten bedingen – auch die Erfahrung anderer Betroffener zeigt dies.

 

Wie fühlt sich Borderline an, wenn du sie in eigenen Worten beschreiben müsstest?

Borderline ist ganz schön komplex und äußert sich bei jedem anders. Zentral sind aber die extremen Gefühle, die sich schnell abwechseln können, genau wie Probleme im zwischenmenschlichen Bereich, das Schwaz - Weiß - Denken und das instabile Sebstbild und ein nicht vorhandener Selbstwert. Und natürlich die Selbstverletzung, die am Ende nur ein Versuch ist, mit all den anderen Symptomen klar zu kommen. Der Teil mit dem Selbstverletzen ist am allerschwersten zu beschreiben.

Ich benutze gerne das Bild eines Luftballons, der kurz vor dem Platzen steht. Entweder es kommt noch ein klein wenig Luft hinein und der Ballon platzt – das wäre im realen Leben dann der Suizid. Oder man schafft es ein wenig von dem Druck abzulassen. Das Selbstverletzen hilft letztendlich beim Druck abbauen, da man vor lauter Anspannung gar nicht mehr atmen – geschweige denn sich bewegen kann. Hinzu kommt der Selbsthass und der Selbstzweifel. Diese Verhaltensweisen werden schnell zur Gewohnheit, obwohl man als Betroffener weiß, dass das eigentlich total doof ist. Aber es tut trotzdem so verdammt gut und hilft so schnell und ist einfach so zuverlässig. Es ist wahnsinnig schwer zu verstehen und zu beschreiben.

 

Wann hast du dir zum ersten Mal psychologische Hilfe gesucht? Hast du die Entscheidung selbst getroffen?

 

Das hat sehr lange gedauert. Ich habe gesehen, dass es immer weiter bergab mit mir geht. Es gab auch gute Phasen, aber die schlechten Phasen wurden immer heftiger und ich bin immer weiter Richtung Suizid gerutscht. Ich wusste, ich habe nicht mehr viel Zeit. Meine Verhaltensmuster wurden immer schlimmer und ich habe gemerkt, dass ich noch zwei – drei Mal fallen kann, aber irgendwann werde ich nicht wieder aufstehen. Ich musste einsehen, dass ich es 10 Jahre lang alleine versucht habe - ich mir aber einfach nicht mehr helfen konnte. Ich bin dann zu einem guten Freund gegangen, dem ich mich anvertrauen konnte. Er war der erste Mensch, dem ich alles erzählt habe.

 

Natürlich hat sich das zu Beginn komisch angefühlt, aber seine Reaktion war einfach super. Er war sehr ruhig und überlegt und hat mich sehr unterstützt und mir seine Hilfe angeboten. Ein wenig später habe ich mir wieder Vorwürfe gemacht und mir eingeredet, dass alles gar nicht so schlimm sei.

 

 

Waren die schlechten Phasen an äußere Umstände gebunden?

 

Bestimmt hatten äußere Faktoren etwas damit zu tun, aber es gab keine direkten Auslöser. Meine Gedanken wurden dunkler und ich war der Meinung, wenn es an den Rändern schon dunkel ist, dann muss ich richtig in das Loch rein rutschen, damit es wieder besser werden kann. Die schlechte Phase hat sich langsam angeschlichen. Der Drang, sich einmal komplett abzuschießen und für einen Moment zu verschwinden wurde größer. Manchmal konnte ich mich 1-2 Tage wehren – aber dann ging es unweigerlich bergab.

 

Wie kam es zu der Entscheidung eine stationäre Therapie zu machen und welche Ängste und Sorgen hattest du vorab?

 

Ich suchte im Herbst 2013 wöchentlich meine Therapeutin auf. Wir bemerkten recht schnell, dass meine Probleme viel zu groß sind, um diese mit einer Therapiestunde in der Woche zu lösen. Meine Therapeutin hat mir zu einer stationären Therapie geraten, musste aber noch recht lange darauf hinarbeiten, bis ich eingesehen habe, dass ich die Wahl zwischen stationärer Therapie oder Verderben habe. Ich habe mir daraufhin eine Klinik in Hamburg gesucht. Ich wollte einfach einen großen Abstand zu meinem Wohnort. Meine Ängste gingen nicht in Richtung Therapie, ich habe mir Gedanken darüber gemacht, wie meine Mama darauf reagieren wird und wie ich das alles finanziell stemmen kann. Für mich war klar, dass mir in der Klinik geholfen wird. Die ersten 1 – 2 Tage waren natürlich schlimm, aber ich bin schließlich aus eigenen Stücken hingegangen. Meine Mitpatienten haben mir das Ankommen sehr einfach gemacht.

 

Was hat dir im Umgang mit deiner Erkrankung und im Genesungsprozess besonders geholfen?

 

Ganz klar: Achtsamkeit! Achtsamkeit hat mir den Arsch gerettet. Am Anfang haben mich Achtsamkeitsübungen extrem angekotzt und ich hatte keine Lust darauf. Irgendwann habe ich mich dann mit dem Thema auseinandergesetzt. Ich habe mich auf eine Bank gesetzt und mir gesagt: wenn die Achtsamkeit so toll ist, dann muss sie mir ja auch bei den richtig harten Dingen helfen. Ich habe mir dann eines meiner schmerzhaftesten Erlebnisse vorgenommen und geschaut, welche Gedanken und Gefühle auftauchen. Das hat unglaublich weh getan aber danach hat es sich in Luft aufgelöst. Ich habe mich quasi der Angst gestellt und alles durch - fühlt. Das war ein krasses Erlebnis für mich.

 

Heute kann ich sagen, dass ich 80 Prozent der Zeit absolut anwesend bin und mein Kopf mich nicht mehr irgendwohin schickt, sondern ich bestimme, wo es hingeht. Das ist ein riesengroßes Geschenk.

 

Du beschreibst in deinem Buch eine der dunkelsten Erfahrungen, die du gemacht hast. Wie schaffst du es heute mit der Erinnerung an die Vergewaltigung zu leben?

 

Das war die Erinnerung, die ich mir auf der Bank vorgenommen habe. Ich habe es jahrelang in eine Ecke geschoben und wollte es nicht anschauen. Erst in der Klinik habe ich dieses Erlebnis einmal aktiv aufgearbeitet. Daraufhin folgte radikale Akzeptanz. Zu Beginn hatte ich ganz große Schuldgefühle – vor allem habe ich mich immer gefragt, warum ich nicht zur Polizei gegangen bin. Mir ist bewusst geworden, wie viel Schuld ich mir gegeben habe oder zum Teil auch immer noch gebe. Ich habe es viel zu lange nicht angeschaut und es dauert immer noch, zu den tiefsten Wurzeln vorzudringen. Ich habe mir auch gesagt: wenn ich meine Geschichte erzähle, dann mit allem was dazugehört. Dieses Thema ist so wahnsinnig Tabu behaftet und ich möchte Mädchen und Frauen, die in der selben Situation sind/waren durch meine Geschichte Mut machen.

 

Hättest du dir eher Hilfe gesucht, wenn du gewusst hättest, dass du psychisch erkrankt bist?

 

Ich kann es nicht genau sagen, aber ich glaube, ich hätte eher eine Erklärung für meine Gefühle und mein Verhalten gefunden und begriffen, dass nicht ich der Fehler bin.

 

Sobald ich wusste, dass eine Krankheit dahinter steckt, hat sich für mich eigentlich alles geändert. Vielleicht hätte ich mich einfach ein wenig informiert und wäre anders an die Sache heran gegangen. Ich glaube, dass ich dann nicht 10 Jahre gewartet hätte, um den nächsten Schritt zu gehen.

 

Die Sucht anzunehmen hat tatsächlich länger gedauert. Das konnte ich erst vor ungefähr zwei Jahren. Das war deutlich schwieriger als Borderline oder Depression.

 

Als ich den Blogartikel 'Der Alkohol und ich' verfasst habe, wurde mir klar, dass ich Alkoholkrank bin. Davor habe ich das Thema Sucht/Alkohol auch kaum auf meinem Blog behandelt, wenn dann nur so am Rande. Das Schreiben des Artikels hat auch tatsächlich länger gedauert als üblich. Aber das schreiben hat mir beim Anerkennung meiner Suchterkrankung enorm geholfen. In dem Moment habe ich dann wirklich akzeptiert, dass ich ein ernstes Problem diesbezüglich habe.

 

Es hat lange gedauert, bis ich den Alkohol loslassen konnte. Er war irgendwie mein wichtigster Helfer. Ich musste mir erst ganz viele neue Strategien aneignen, bis ich ihn loslassen konnte. Das hat dann ab meiner Diagnose noch 3 Jahre gedauert. Die Entscheidung gar keinen Alkohol mehr zu trinken kam daraufhin ganz leicht. Das letzte Jahr war das erste Jahr, an dem ich gar nichts mehr getrunken habe und das war bisher mein bestes und stabilstes Jahr.

Was würdest du Betroffenen und deren Angehörigen raten?

 

Heute sage ich ganz, ganz klar: Ansprechen! Wobei man darauf gefasst sein sollte, dass der Betroffene mit absoluter Abwehr reagieren könnte. Die wenigsten werden zugeben, dass sie ein Problem haben. Es werden sicherlich zunächst einmal alle Abwehrmechanismen anspringen. Man kann aber sicher sein, dass es bei dem Betroffenen im Kopf etwas auslösen wird. Solange das Umfeld nicht aufmerksam macht, kann der Kopf des Betroffenen ja weiterhin annehmen, dass alles gar nicht so schlimm ist. So unangenehm das für beide Seiten auch sein mag, im Endeffekt braucht es manchmal den einen Anstoß von Außen, damit sich etwas in Bewegung setzen kann. Wenn die Sorge der Antrieb hinter dem Aufmerksam machen ist, dann ist es immer richtig! Es geht so vielen so, die eigentlich nur darauf warten, bis jemand irgendetwas sagt.

 

Was ist denn so deine Mission, dein Wunsch in Bezug auf psychische Erkrankungen?

 

Mein Wunsch ist es zu verändern das und wie wir über psychische Gesundheit reden. Ich glaube, indem wir früher und anders über psychische Erkrankungen reden, könnten wir besser damit umgehen. Psychischen Erkrankungen könnte dadurch vorgebeugt werden und würden vielleicht gar nicht erst so schlimm oder gar chronisch werden. Wir müssen lernen, darüber zu reden. Die Probleme werden nicht weggehen und das Versorgungssystem wird auch nicht so schnell besser werden. Deswegen müssen wir präventiv arbeiten, in dem wir reden, aufklären und informieren. Das geht nicht ohne uns Betroffene. Ich wünsche mir, dass der Umgang mit psychischen Erkrankungen irgendwann so normal ist, wie der Umgang mit körperlichen Krankheiten.

 

Die meisten psychischen Erkrankungen fangen vor dem 14. Lebensjahr an und wir klären nicht auf. Der nächste kleine und nun erreichbare Traum ist die Eröffnung des ersten Mental Health Cafés in München. Wir wollen einen Ort schaffen, an dem Menschen reden können. Ich möchte diese ganzen Stereotypen aufbrechen von 'Ein Alkoholiker sieht so aus!' oder 'Ein psychisch kranker ist nicht arbeitsfähig!“.

Warum normal sein gar nicht so normal ist
Borderline

In ihrem Buch: 'Warum Normal Sein Gar Nicht So Normal Ist' trägt Dominique ihre ganz persönliche Geschichte in die Welt hinaus und klärt über diese auf frische, informative und unglaublich lesenswerte Weise über Borderline, Sucht, Depression und vieles mehr auf, sodass zukünftig so manche Schublade in Bezug auf psychische Erkrankung in einigen Köpfen einfach geschlossen bleiben dürfen.

 

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photo credits: Edrece Stransberry // unsplash ; Dominique de Marné

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