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Warum Du nicht immer wieder bei Tag 1 anfangen musst

Ich beobachte das jetzt schon seit einer Weile. So viele Zahlen und Apps und das hoffnungsvolle Versprechen: "Heute ist mein Tag 1!". Und nach ein paar Tagen der traurige Satz: "Ich muss wieder bei Tag 1 anfangen.".

 

Wie schade. Tage zählen ist irgendwie gut, aber irgendwie auch nicht. Wem es hilft, der braucht nicht weiterlesen, denn was hilft, das hilft. Wem das Tage zählen mächtig auf die Eier geht, der kann weiter lesen.

 

Ich habe nie meine Tage gezählt. Weder zu Beginn, noch heute. Der einzige Zeitpunkt, an dem ich errechnet habe, wieviel Tage ich nun schon nüchtern bin war, als ich einen Blogpost darüber verfassen wollte, wieviele Tage ich nun schon nüchtern bin. Aber eigentlich ist die Anzahl völlig egal und eigentlich interessiert mich die Anzahl auch überhaupt nicht. Heute habe ich keinen blassen Schimmer davon, wieviele Tage ich nüchtern bin.

 

Weißt du, was das Ding ist? Du kannst einen einzigen Tag nüchtern sein, und das ist der beste Tag deines Lebens und Du kannst genauso 3567 nüchterne Tage auf dem Tacho haben und dein nüchternes Leben ist die reinste Qual.

Das ist ungefähr so, wie mit den Instagram - Followern. Du kannst 1 Follower haben und der ist dein größter Fan, oder Du hast 123.000 und die interessieren sich rein gar nicht für dich. Zahlen sagen rein gar nichts über die Qualität deines Lebens aus.

Ich bin früher jeden Tag auf die Waage gestiegen und habe anhand der Zahl auf der Waage überprüft, wie mein Tag heute werden wird. Damals habe ich die kleineren Zahlen lieber gehabt, als die größeren. Dabei war an den Zahlen überhaupt nichts verkehrt. Aber mich auf eine bestimmte Zahl zu fokussieren hat mich irre gemacht und innerlich war ich unzufrieden. Ich habe mein Leben von einer Zahl abhängig gemacht und habe darüber hinaus vergessen, dass ich mich doch eigentlich auf mich selbst und mein Innenleben konzentrieren sollte, anstatt mich im Außen immer wieder abzulenken.

 

Wenn ich aus irgendwelchen unerfindlichen Gründen irgendwann wieder trinken sollte, dann wäre es doch total frustrierend für mich fast 3 Jahre lang meines nüchternen Lebens einfach so streichen zu müssen, als wären diese nicht existent. Das wäre für mich persönlich unfassbar demotivierend, denn an jedem einzelnen nüchternen Tag, habe ich doch so viel über mich gelernt. Ich kann doch nicht den wichtigsten Teil meines Lebens einfach so ausradieren nur, weil ich einmal einen Fehler gemacht habe?

 

Und wie sieht es denn dann eigentlich mit der Zeit aus, bevor Alkohol überhaupt mein Leben betreten hat. Immerhin kann ich mit stolz behaupten, dass ich schon mindestens 14 Jahre meines Lebens definitiv nüchtern verbracht habe und soweit ich mich erinnern kann, war ein Großteil dieser Zeit ziemlich cool und ich habe keinen einzigen Gedanken an Alkohol oder andere Droge verschwendet. Zählen 14 Jahre meines Lebens dann nicht und ich falle wieder komplett auf Null zurück? Das Spiel gefällt mir nicht und da spiele ich auch nicht mit. Und nochmal, den Menschen, denen es hilft Tage zu zählen, die sollen Tage zählen, denn es zählt: Alles, was hilft!. Aber in diesem Artikel möchte ich mich gerne an diejenigen unter uns wenden, die unfassbar schnell frustriert sind, sich vergleichen und Zahlen eher demotivierend finden.

Wieviel?

Wie schon zuvor geschrieben laden Zahlen zum Vergleichen ein. Der eine hat schon mehr nüchterne Tage, als die andere. Aber was soll denn das schon heißen? Ich wiederhole es gerne noch einmal: die Anzahl deiner nüchternen Tage sagst nichts über die Qualität deiner nüchternen Tage aus und Vergleichen ist in diesem Zusammenhang wirklich nicht nötig.

 

In unserer Community habe ich letztens folgendes Bild verwendet: 
Nehmen wir einmal an ich habe mir vorgenommen 10 km Joggen zu gehen. Ich bereit mich also voller Vorfreude (oder vielleicht ohne Vorfreude) vor und laufe los. Ich laufe, laufe, laufe über Wiesen und Wälder, über Stock und Stein. Die erste Strecke des Weges fühlt sich noch super easy an, meine Beine sind locker, die Strecke ist eben. Nach 5 Kilometern bemerke ich einen leichten Anstieg. Meine Beine werden etwas schwerer. Vielleicht bin ich auch noch etwas erschöpft vom gestrigen Lauf. Ich werde also unkonzentrierter. Ich kenne diese Strecke, weil ich sie schon 100 Mal (Naja, vielleicht 50) in meinem Leben gelaufen bin. Ich fühle mich sicher, auch wenn ich langsam müde werde. Bei Kilometer 7 befinde ich mich im Wald. Der Boden ist weich, meine Beine können ein wenig entspannen. Ich laufe und laufe, es wird leichter, ich laufe und BAAAM! fliege ich voll auf die Fresse. Ich erschrecke mich, weil ich nicht so richtig verstehe, was soeben passiert ist. Ich stehe ganz langsam auf und versuche meine Gedanken zu sortieren. Betrachte meine verdreckten, blutigen Knie. Schaue auf den Boden und bemerke eine Wurzel, die aus dem Boden ragt und die ich zuvor noch nie wahrgenommen habe, obwohl ich diese Strecke schon so oft gelaufen bin. "Scheiße!" Denke ich mir. Aber würde ich allen Ernstes auf die Idee kommen, den ganzen Weg wieder zurückzulaufen, nur, um wieder bei Null zu starten? NO WAY!

Was nun?

Du bist ein Mensch und ich bin ein Mensch und vielleicht muss ich Dich hier an diesem Punkt enttäuschen, aber wir Menschen sind leider (oder zum Glück) nicht erschaffen worden, um perfekt zu sein. Ganz im Gegenteil! Wir sind auf diese Welt gekommen, um Fehler zu machen und im besten Falle aus unseren Fehlern zu lernen.

 

Es geht nicht darum wieder den kompletten Weg zurückzulaufen und von Vorne zu beginnen. Es geht vielmehr darum zu schauen, warum wir hingefallen sind. Was haben wir denn auf unserem Weg übersehen? War es der falsche Laufschuh, der sowieso schon die ganze Zeit gedrückt hat? Dann ist es jetzt an der Zeit, Dir einen neuen Schuh zu besorgen. Oder warst Du vielleicht zu müde vom gestrigen Lauf, konntest Dich schwer konzentrieren und hast Dir keine Pausen gegönnt? Dann solltest Du zukünftig besser darauf achten und deinen Körper und seine Ruhephasen respektieren. Oder aber Du hast überhaupt nicht mit dieser Wurzel gerechnet. Du hattest sie einfach nicht auf deinem Radar, du hättest auch nie gedacht, dass Dich eine Wurzel zu Fall bringen könnte? Dann solltest Du Dir diese Wurzel ganz genau merken und beim nächsten Mal entscheiden, ob Du einen anderen Weg wählst, drüber springst, oder drumherum läuft. Deine 7 Kilometer, die Du vorher gelaufen bist, gehen Dir doch aber nicht verloren. Die bist Du gelaufen, die hast Du durchgehalten und sicherlich hast Du vorher auch schon dafür trainiert, um 7 Kilometer am Stück laufen zu können. Das ist gut! Das ist richtig, richtig gut und selbst das zeigt, dass Du es kannst, denn Du hast es Dir doch selbst bewiesen.

 

Und genauso sehe ich das Ding mit dem Rückfall. Es geht nicht darum, einen "Ausrutscher" zu haben, nicht weiter darüber nachzudenken und sich zu sagen "Beim nächsten Mal schaffe ich es bestimmt." Es geht vielmehr und die Frage: Warum der Ausrutscher und wie willst du es schaffen, dass Du es beim nächsten Mal schaffst? Was lernst Du aus dieser Situation?

Meine Wurzel lag vor gut 2, 5 Jahren an einem Strand und ich habe mir so eine riesige Platzwunde geholt, dass diese gefühlt genäht werden musste. Seitdem schaue ich immer auf den Boden vor mir. Das war mir vorher nicht klar und das ist es mir heute umso mehr. Aber deswegen habe ich nicht all meine nüchternen Tage verloren. Meine nüchternen Tage gehören mir und selbst wenn ich einmal wieder fallen sollte, dann habe ich zumindest schon ganz schön viel über mich selbst gelernt und das ist das, was für mich zählt.

meine kurse findest du hier:

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Kommentare: 4
  • #1

    Jan (Donnerstag, 13 August 2020 00:20)

    Ich glaube, Du bist ein Schatz, den ich gefunden habe.
    Danke dafür.
    Jan

  • #2

    Anna (Montag, 23 November 2020 19:00)

    Danke für diese Seite - ich möchte schon so lange mit dem Aufhören anfangen ...

  • #3

    Eliza (Montag, 07 Dezember 2020 06:15)

    Hello, dear Vlada,
    i nominate you for the „Outstanding Blogger Award 2020“.

    You can find all the details how how to proceed here:

    https://nachhausefinden.com/2020/12/07/i-was-nominated-for-the-outstanding-blogger-award/

    Have fun and joy with the questions and nominating your favourite blogs.
    In Love, Eliza

  • #4

    Manuel Rericha (Freitag, 11 Dezember 2020 17:27)

    Hallo!

    Echt toller und guter Beitrag zur Alkoholabhängigkeit!

    Ich betreibe eine Webseite über das Fachwissen Alkohol. https://fachwissen-alkohol.de

    Es war eine lange und anstrengende Reise und Arbeit, aber ich hoffe damit, dass ich vielen Leuten weiterhelfen kann!

    LG Manuel